LEA IST WEG
Lea rannte aus dem nach Zimtplätzchen duftenden Haus. Eisig peitschte ihr der Eisregen bereits vor der Haustür ins Gesicht. Sie blieb kurz stehen. Über ihrem Kopf schaukelte ein Mistelzweig an einem roten Schleifenband. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihren Anorak vergessen hatte. Doch das spielte im Moment wirklich keine Rolle. „Minka, ich muss Minka wiederfinden! Es ist sicherlich viel zu kalt für sie hier draußen! Blöder Lukas! Das war so gemein von ihm gewesen! Die arme, kleine, süße Minka! Das wird er mir noch büßen!“
Heute, am zweiten Adventssonntag, hatte sich die gesamte Großfamilie bei Oma Anna getroffen. Die Kinder wuselten wild durch alle mit rotem Adventsschmuck üppig ausgestatteten Räume. Sogar die Schals der Fenster hatte Anna gegen ihre Weihnachtskollektion ausgetauscht.
Ihre Enkel genossen es sichtlich, mal wieder ausgiebig miteinander spielen zu können. Gott sei Dank schenkten ihnen die Erwachsenen auch nicht allzu viel Beachtung. Weshalb auch? Was sollte schon passieren? Das letzte komplette Familientreffen lag gut und gerne ein halbes Jahr zurück, und so hatten sie sich allerhand zu erzählen.
Die gemütliche Bernhardinerhündin Cora, ein kleiner, quirliger, fuchsfarbener Mischlingshund namens Cookie sowie ein Wurf heranwachsender Kätzchen, deren Fell etwas länger als bei gewöhnlichen Hauskatzen war, wimmelten zwischen den Cousinen und Cousins munter herum.
Doch genau in dem Moment, als Peter, Annas ältester Sohn, mit einem bis über den Rand gefüllten Holzkorb das Haus betrat, stürzte an ihm eine höllenmäßig fauchende Katze vorbei ins Freie. Ein seltsames Geklapper begleitete ihre Flucht. Peter kannte das Geräusch genau, konnte es im Zusammenhang mit einer Katze jedoch nicht genau zuordnen. Dem fliehenden Fellknäul folgte unmittelbar seine sechsjährige Tochter, wutentbrannt und ohne Jacke. Schon im nächsten Moment hatte die feuchte Dunkelheit das denkwürdige Gespann verschluckt.
„Was war das denn?“ Fragend blickte er in die Runde, bekam jedoch keine vernünftige Antwort. Stattdessen schwiegen alle ratlos. Aus den Augenwinkeln sah Peter, wie sich einer der Jungen verstohlen hinter der Esszimmertür in den Raum schob. Es war dieses gewisse siegessichere Blitzen in seinen Augen, das ihn verriet.
„Lukas, was ist passiert?“ Fest blickte Peter den Jungen an. Das Siegerlächeln verebbte.
„Och, Minka ist eben weggelaufen!“ …
CORA VOM DACH
Es war kalt, ja, bitterkalt. Auf dem knochenhart gefrorenen Boden jagte der Ostwind glitzernde Eiskristalle vor sich her. Sie kräuselten sich hier und dort in kurzlebigen, zwergartigen Windhosen. Alles war schneebedeckt: der Hof mit den mächtigen, uralten Kastanien, die ehemaligen Stallungen, die Schuppen mit ihren ineinander übergehenden Dächern, der Garten samt Fliederbusch, das Haus und die Hundehütte. Ein alles in allem perfektes Weihnachtswetter, wirklich, wenn, ja wenn man kein Hund war!
Cora lag in ihrer Hütte. Ihr riesiger Bernhardinerkopf war auf die Vorderpranken gestützt. Alles hatte sie perfekt im Blick: den Hof, die Straße, Frauchens Küchenfenster und, ganz besonders aufmerksam, ihren Weihnachtsknochen.
Am Heiligabend musste sie Jahr für Jahr das Haus zunächst verlassen. Ihr Frauchen, Anna, stürmte dann wie besessen, und wie schon die Tage zuvor, durch alle Zimmer. Richtig ungemütlich! Und, was besonders übel war, sie hatte keine Zeit zum Spazierengehen oder Kraulen; auch strichen ihre Füße dann nie über Coras Fell, wenn sie einen Kaffee trank. All diese kleinen, wonnigen Annehmlichkeiten eines Hundelebens blieben aus, und Cora musste raus.
So döste sie in der dick mit frischem Stroh ausgelegten Hütte vor sich hin, langweilte sich und blinzelte ab und zu nach ihrem Knochen. Wenigstens an den hatte Anna gedacht.
Äußerst sorgfältig hatte Cora ihn vor Stunden im Hof platziert. Er lag einerseits, von der Hütte aus betrachtet, gradlinig und somit für sie selbst gut erreichbar, andererseits nur wenige Meter vom Holzschuppen entfernt. Dort in dem Schuppen trieben sich nämlich andauernd die Katzen herum. Ärgerlicherweise zwischen und auf dem Holz, wo sie, Cora, nicht an die Minitiger herankam. Dort fingen sie Mäuse oder spielten miteinander. Cora durfte nie mitspielen. Also hatte sie ihren kostbaren Knochen genau in deren Nähe in Position gebracht. Irgendwann musste dort etwas passieren. Geduld, ja die brauchte sie dazu.
Mohrle, die alte Mutterkatze, schlenderte mit steil aufragendem Schwanz grazil quer über den Hof hinüber, fast schon angeberisch. Sie kannte sich aus. Auf Coras Knochen fiel Mohrle schon lange nicht mehr herein. Ihr feines, rosiges Näschen nahm zwar die verführerische Witterung auf, ihr Schwänzchen zuckte ein paar Mal, aber sie drehte mit Blick auf Cora ab und stolzierte ungerührt weiter.
Cora hatte ihre abgeknickten, lebkuchenteigfarbenen Ohren leicht aufgestellt. Das war ja klar!
Früher hatten die beiden sich bei so mancher heißen Verfolgungsjagd miteinander vergnügt. Aber irgendwann hatte Mohrle das nicht mehr eingesehen. Seither ging sie Cora in aufreizender Art und Weise andauernd aus dem Wege.
Cora senkte die Ohren wieder ab. So eine Spielverderberin! Immerhin sorgte Mohrle alle paar Monate fleißig für Nachwuchs und versorgte den Hof und seine Hündin mit vergnüglichem Nachschub. Wenigstens das!
Cora schnaubte, legte sich erneut bequem zurecht und blinzelte weiter.
Vor gut einer Stunde war Lore, Annas älteste Tochter, die mit ihrer Familie nur wenige Häuser weiter entfernt wohnte, schon angekommen. Ihre beiden Mädchen hatten Cora kurz gebührlich geknuddelt, waren jedoch sofort von ihrer Mutter gerufen worden. Welch vorsätzliche Anstiftung zur Vernachlässigung! Normalerweise wichen die beiden nie von Coras Seite, solange sie in Omas Nähe waren.
Der Festtagsknochen, ihr Zeichen der Hoffnung, war immer noch unberührt. Cora döste ein wenig.
Da! ...
SUCH EINS - FIND ZWEI
Lea platzte vor Ungeduld. Ausgerechnet heute fuhr ihr Vater viel zu langsam, fand sie. Die Straße sei spiegelglatt, behauptete er. Dabei war er der beste Autofahrer weit und breit, das stand für sie felsenfest. Dennoch ließ er das Auto im Schrittempo die zugegebenermaßen total verschneiten Straßen lediglich entlang kriechen.
Hübscher, dicker Watteschnee lag verheißungsvoll auf der Fahrbahn, die in den letzten Stunden offensichtlich keinen Schneepflug mehr gesehen hatte. Die Bäume und Büsche entlang des Straßenrandes trugen glitzernde, weiße Mützen. Frau Holle hatte ganze Arbeit geleistet.
Lea war das nur allzu recht. Solch ein Wetter hatte sie sich seit Wochen für diesen Nachmittag sehnlichst herbeigewünscht. Schließlich war heute ein ganz besonderer Tag, einer, der nur ein einziges Mal im ganzen Jahr vorkam. Dann sollte doch alles passen – und das tat es auch – abgesehen davon, dass ihr Vater derartig nervtötend im Schneckentempo vorwärts kroch. Ätzend! Lea schaute aus dem Fenster. Sie hatte mittlerweile die eiskalte Scheibe mehrfach angehaucht, Herzchen und Kreise in den entstandenen Nebel hineingemalt, mal die Wange und ein andermal die Stirn an das kalte Glas gelehnt und zwischendurch immer wieder gestöhnt. Jetzt hielt sie es nicht mehr aus. „Papa, wie heißt die Antwort auf die verbotene Frage?“
Peter, ihr Vater, warf den Kopf in den Nacken und blies die Backen auf, so laut wie ein schnaubendes Pony. „Maus, wenn ich das bloß selbst wüsste! Glaub mir, auch ich bin heilfroh, wenn wir endlich wohlbehalten bei Oma angekommen sind!“ Peter bedachte sie über den Rückspiegel mit einem kurzen, prüfenden Blick, konzentrierte sich jedoch sofort erneut auf die Fahrbahn.
„Und wenn die nicht auf uns warten? Onkel Hermann will auf jeden Fall früh genug losgehen! Er möchte im Hellen wieder zurück zu Oma kommen, hat er mir am Telefon gesagt. Dass wir ja um zwölf pünktlich da sein sollen, das hat er extra betont! Und jetzt haben wir schon halb zwölf! Und wir trödeln hier vor uns her!“
Peter stieß zischend die Luft zwischen seinen tadellosen Zähnen aus.
Frauke drehte sich vom Beifahrersitz aus zu ihrer Tochter um. „Keine Sorge, Schatz, die werden schon auf dich warten! Onkel Hermann muss doch auch trotz des Wetters zur Oma fahren, genau wie wir! Dem geht es ganz bestimmt nicht besser als uns! Und im Übrigen weiß er doch nur allzu gut, wie gerne du dabei sein möchtest! Wenn ich mich nicht irre, hast du ihn neulich extra angerufen, um ihm genau das zu sagen. Stimmt’s, Maus?“ Frauke lächelte.
„Und wenn er das vergessen hat? Der ist doch schon so alt!“
„Der vergisst das schon nicht, glaub mir! Er möchte doch selbst lieber zusammen mit euch Kindern aussuchen gehen. Allein könnte er das jederzeit, wenn er nur wollte. Also mach dir keine Sorgen!“ Aufmunternd nickte Frauke ihrer Großen zu.
Mia, Leas kleine Schwester, schaute von ihrer Barbie-Puppe auf, die sie nunmehr zum x-ten Mal umzog. Bedeutungsvoll hob sie ihre schmalen Schultern, machte riesige Kulleraugen und gab ein theatralisches „Ist so!!!“ von sich.
Frauke und Peter lachten. „Genau, Mia. Ist so!“
Lea konnte heute darüber überhaupt nicht lachen. Stattdessen machte sie sich echte Sorgen. Denn es könnte ja doch sein, dass die anderen losgingen ..
DAS EIGENE CHRISTKIND
Lea stürmte aus dem Auto. Wie sehr hatte sie den heutigen Tag herbeigesehnt! Endlich, endlich war es soweit! Blitzschnell schaute sie sich im Hof ihrer Großmutter um. Zufrieden stellte sie fest, dass die Wagen ihrer Onkel und Tanten bereits parkten: Da war zunächst der grüne Geländewagen von Onkel Hermann, einem Bruder ihrer Großmutter Anna. Daneben stand der kleine, rote Flitzer von Markus, Oma Annas jüngstem Sohn.
Bald würden er, seine Ulli und der kleine Jan wohl nicht mehr dort hineinpassen. „Ulli bekommt in Kürze ihr Baby“, hatte Frauke, Leas Mama, gerade noch im Auto gesagt.
Der riesige Wagen von Tante Lore und Onkel Michael überragte wie immer alle anderen. Er bot problemlos deren Kindern Alex, Nadja und Lisa sowie ihrem Hund Cookie und meist auch noch Tante Tina mit ihrem Sohn Lukas bequem und ausreichend Platz.
Lea beschattete mit der Hand ihre Augen. Die Sonne blendete das Mädchen. Denn sie lachte nur so vom blitzblauen Himmel und reflektierte ihre tanzenden Strahlen tausendfach in dem dick aufgebauschten, strahlend weißen Neuschnee. Aber außer Lea selbst, ihrer kleinen Schwester Mia, ihrem Papa Peter und ihrer Mutter war niemand auf dem Hof zu sehen.
Abgesehen von ein paar Katzen natürlich, die sich auf Coras geräumiger Hundehütte genüsslich in der Sonne räkelten und nun sehr gelangweilt in ihre Richtung blinzelten.
„Oma, wir sind auch da“, brüllte Lea nun, so laut sie nur konnte und lief in Richtung der weihnachtlich geschmückten Haustüre. Kaum hatte sie diese geöffnet, da umfing sie auch schon ein verheißungsvoll würziger Duft. Was es genau war, konnte sie nicht sagen. Es roch einfach so, wie es bei Oma zu Weihnachten halt immer riecht und erinnerte irgendwie an Apfelkuchen und die Glühweinstände der Weihnachtsmärkte – nur roch es noch viel besser.
„Guck mal, Lea, Oma hat für uns extra Kinderglühwein gemacht“, strahlte Lisa und präsentierte stolz ihren vollen Becher. „Der schmeckt viel besser als der, den Onkel Hermann für die Großen gemixt hat“, kommentierte Nadja weiter und füllte Leas Becher.
„Na, na, na“, widersprach Onkel Hermann, der alle Erwachsenen systematisch mit seinem Werk versorgte. „Schließlich verwende ich einen richtig guten Burgunder von der Ahr! Und ausschließlich frische, natürliche Gewürze als Zutaten! Etwas Besseres als den gibt es gar nicht“, verkündete er mit Nachdruck.
„Ja, ja, aber unserer ist eben super kindercool“, verteidigte Nadja ihren roten „Punsch“. Schließlich hatte Oma sie heute in die besonderen Geheimnisse der „Kinderglühwein-Herstellung“ eingeweiht.
„So, ich glaube, jetzt sind wir alle bestens versorgt!“ Onkel Hermann ließ seinen Blick prüfend über die Häupter seiner Lieben schweifen.
Oma erhob ihren Becher, räusperte sich und verkündete strahlend: „Ihr Lieben! Ich freue mich unbändig, dass ihr heute alle zu mir gekommen seid, um hier, in unserem Haus, zusammen Weihnachten zu feiern. Möge es ein wunderbares, uns allen unvergessliches Weihnachtsfest werden! Auf unsere Familie!“
Gläser klirrten glockenhell, die Tonbecher gaben ein weniger elegantes „Klock“ beim Anstoßen von sich, und in Omas Wohnstube entstand ein einziges Gewurstel, weil jeder mit jedem anstoßen wollte.
Die Mädchen berührten mit ihren Gefäßen sogar die Kauknochen, die Cookie und Cora unterm Esstisch in Arbeit hatten, um tatsächlich auch niemanden zu vergessen. „Hermann, was ist mit dir los? Ist dir nicht gut?“ Besorgt hatte Anna ihren Bruder beobachtet. Ihr konnte er nichts vormachen.
„Ach, es ist nicht so schlimm! Seit gestern ärgert mich meine alte, verflixte Narbe wie wild. Du weißt ja, ich bin etwas wetterfühlig. Wenn das Wetter so wird, wie die mich malträtiert, dann ...“
AUF DEN SESSEL - FERTIG - LOS!
Lea war sich ganz sicher: Der Sessel würde Oma Anna unbedingt gefallen! Dieser, genau dieser Sessel entsprach ihrer Großmutter wie kein anderer! Lea konnte sich genau vorstellen, wie Oma Anna darin saß, alle Enkel um sich geschart, die Kleinen auf ihrem Schoß kuschelnd und die Älteren auf den Lehnen herumturnend. Sie, Lea, würde zusammen mit ihren Cousinen Nadja und Lisa vor Oma auf dem Teppich sitzen. Und sie würden der Großmutter zuhören: ihre Gesichter in die schokoladenbeschmierten Hände stützen, ab und an ein paar Fragen stellen und in den uralten Geschichten schwelgen.
Geschichten aus dem letzten Jahrtausend, als es noch keine Handys, iPhone, Smartphone, Internet, PlayStations, ja, noch nicht einmal Computer gab. Unvorstellbar!
Oma lebte damals bereits, konnte sich mit ihren Freundinnen nur dann verabreden, wenn sie sich richtige Briefe schrieben oder bereits in der Schule Treffen vereinbarten. Dennoch behauptete Oma Anna steif und fest, dass ihr niemals langweilig gewesen sei.
Könnt ihr euch das etwa vorstellen?
Großmutter ließ sich davon jedenfalls nicht abbringen.
Lea schaute in den Kofferraum. Dort stand er, der ultimative Ohrensessel mit passendem Fußhocker. Der, den sie höchstpersönlich in einem der überfüllten Einrichtungshäuser entdeckt hatte.
Das war vielleicht eine Aktion gewesen! Denn die gesamte Familie hatte sich geschlossen in das vorweihnachtliche Getümmel gestürzt, um Oma einen Sessel zu kaufen: Leas Eltern Peter und Frauke samt Leas kleiner Schwester Mia; Tante Lore und Onkel Michael mit Nadja, Lisa und Alex, der aber immer nur in der IT-Ecke abhing; Tante Tina und ihr frecher Lukas; Onkel Markus mit Jan auf den Schultern und seiner Ulli, die das Baby im Buggy schob.
Und natürlich Onkel Hermann, Omas Bruder, der sogar eine Farbprobe von Oma Annas Teppich die ganze Zeit wie einen Kompass vor sich hertrug.
Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie schwierig das war!
Alle Papas kreisten permanent um diverse Designer-Hightech-Teile aus glattem Leder mit tausend Einstellmöglichkeiten, Möbel, die toll in die Enterprise passen würden.
Frauke, Tina und Lore schwärmten unaufhörlich von diversen IKEA-Modellen und wollten unbedingt dorthin.
Und Onkel Hermann strebte unerschütterlich in die klassischen „Standuhrecken“ und strahlte die Mannschaft probesitzenderweise aus einem Ladenhüter nach dem anderen an.
Vier bis fünf Toiletten-Stopps später hatte Lea es gesichtet, das tatsächlich umwerfenste Teil, das man sich überhaupt vorstellen konnte: einen richtigen Ohrensessel, mit allem Drum und Dran, also einer hohen Rückenlehne mit runden Armstützen und Öhrchen, geschwungenen Füßchen, einem dazu passenden Hocker – und bunt, mega-knallig-bunt! ...
VIER WÄNDE FÜR KOSTBARE WÜNSCHE
Mit weit ausgebreiteten Armen lief Lea durch den Garten. Endlich schneite es. Bei der Schaukel blieb sie stehen und sah sich um: Die Obstbäumchen trugen sehr dicke, weiße Mützen, am Vogelhäuschen tummelten sich die Meisen, und aus dem Schornstein des schneebedeckten Hauses stieg sachte weißer Rauch, genau wie in einem Bilderbuch.
Auf jeden Fall fand sie das Haus wunderschön, in dem sie mit ihren beiden Eltern Peter und Frauke und ihrer kleinen Schwester Mia lebte.
Und es würde in den kommenden Wochen noch viel schöner werden, denn sie bekam endlich ein eigenes Zimmer, ganz oben unterm Dach, direkt bei Sonne, Mond und Sternen. Darauf freute sie sich jetzt schon wie eine Schneekönigin. Sie würde auch gar nicht so lange darauf warten müssen, denn auf dem bisherigen Speicher arbeitete gleich ein ganzes Team der Werkstatt für Wohnraumgestaltung. In Windeseile zauberte dies von A bis Z Leas neues Reich. Bis hinunter in den Garten konnte sie die Männer sägen und hämmern hören.
Normalerweise renovierten ihre Eltern immer alles selbst, aber Onkel Hermann, Oma Annas Bruder, hatte an Leas Geburtstag den üblichen Zank in Leas und Mias gemeinsamem Kinderzimmer miterlebt und den Fachbetrieb kurzerhand engagiert. Das sei sein Geburtstagsgeschenk für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre, hatte er gesagt. Denn bis Peter den Speicherausbau zwischen seinen Montageaufenthalten im Ausland fertig habe, werde Lea sicherlich schon ausziehen, hatte Hermann augenzwinkernd gemeint.
Omas Bruder war der Beste, fand Lea und ließ sich glücklich rückwärts in den Schnee fallen. Sie pflügte ihre Arme beim Kopf beginnend mit kleinen, ruckartigen Bewegungen durch die watteweiße Pracht. Anschließend stand sie sehr vorsichtig auf. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk: Doch, er sah gut aus, der erste Schneeengel in diesem Jahr. Sorgfältig klopfte sie sich die Spuren aus der Kleidung. Dabei beobachtete sie, wie das neue Dachfenster montiert wurde – ihr Dachfenster! Sie würde von dort aus direkt in den Garten über die Dächer der Nachbarhäuser, ja sogar bis zum Waldrand sehen können. Zweifellos: Ihr neues Zimmer würde das allerschönste Kinderzimmer der Welt werden, überlegte sie. Jede Familie sollte ein schönes Zuhause haben, fand Lea. Aber leider mussten viele ganz anders leben. Auch das wusste die Neunjährige nur allzu gut. Ihre Freundin Marie, zum Beispiel, konnte in ihrer klitzekleinen Wohnung nie schreien, springen oder einen Ball auftitschen; nicht einmal ein Stuhl durfte dort hörbar über die Fliesen schlurfen. Das war vielleicht doof! Wie hält man sowas nur aus?
Lea musste manchmal einfach sehr laut jubeln – oder schimpfen, je nachdem. Das nicht zu dürfen war vermutlich, nein, es war ganz gewiss, auch so etwas Ähnliches wie Tierquälerei, vermutete sie.
„Lea, wo bleibst du? Wir wollen doch zu Oma fahren“, rief Frauke durch das gekippte Küchenfenster hindurch.
„Ich komme ja schon!“ Und sogleich wirbelte das Mädchen in Schlangenlinien der Haustüre entgegen. Die sacht fallenden Flocken kribbelten und kitzelten ihr im Gesicht. „Mama, darf ich das Pfefferkuchenhaus auf der Fahrt festhalten? Bitte!“ Entschlossen nahm sie es vom Tisch.
Gestern hatten Mia, ihre Mutter und sie es für das heutige Familientreffen gebacken und zusammengebastelt. Das war gar nicht so einfach gewesen.
„Wird es dir nicht zu schwer werden?“, wollte ihre Mutter wissen.
„Bestimmt nicht! Ich bin doch schon groß.“
Frauke lächelte. „Na gut!“
Auf dem Weg zum Auto setzte Lea sehr umsichtig einen Fuß vor den anderen, um ja nicht auszurutschen. Sie freute sich unbändig auf den heutigen Nachmittag. Natürlich würde Onkel Hermann bei Oma Anna sein, wie meistens. Und er habe eine Überraschung für die Kinder vorbereitet, hatte er ihr anvertraut.
Was, das hatte er um keinen Preis der Welt beim Telefonieren verraten wollen ...
DER KLEINE BOTSCHAFTER
Zack, Lea rutschte schon wieder aus. Dieses Mal blieb sie für einen Moment auf ihrem Hosenboden sitzen und rieb sich ihr Knie. Denn das tat ganz schön weh. Doch dann musste sie herzhaft lachen. „Lisa, lass den Zaun heile!“, rief sie in Richtung ihrer Cousine.
Mit beiden Händen hatte diese sich krampfhaft an den altersschwachen, nur noch teilweise schwarzen Eisenstäben festgeklammert und versuchte mühevoll mit deren Hilfe vorwärtszukommen. Dabei rutschten auch ihr die Füße immer wieder weg. Kein Wunder bei der beachtlichen Eisschicht auf dem Gehweg!
Auf der Straße sah es auch nicht anders aus. Solch ein Glatteis hatten die beiden Mädchen noch nie zuvor erlebt! „Wie dick mag das Eis sein?“ Lea ließ ihren Fellhandschuh über den Bürgersteig gleiten, auf dem die zwei nun nebeneinander saßen. Das konnten sie heute durchaus bedenkenlos, denn außer ihnen war keine Menschenseele weit und breit auf der Straße zu sehen.
Kaum ein Auto fuhr, selbst der Busverkehr war eingestellt worden, sobald die Kinder die Kleinstadt gegen halb acht erreicht hatten. Mit Müh und Not waren sie zu ihrer Schule geschlittert. Doch die blieb heute wegen des Glatteises geschlossen.
Lisa schnippte die Eiszapfen ab, die dem Gartenzaun einen ganz neuen Style verliehen. „Ich versuch nochmal, meine Mutter zu erreichen.“ Umständlich zog Lisa ihre Schultasche näher heran und kramte darin nach ihrem Handy. „Die hätten uns echt früher sagen können, dass wir heute schulfrei haben. Wozu haben die Eltern denn die Telefonketten, WhatsApp Gruppen und sowas. Jetzt sitzen wir hier herum. Echt blöd!“
Mürrisch rief sie die Festnetznummer ihrer Familie auf und ließ es klingeln, endlich mit Erfolg. „Mama, du musst uns unbedingt holen kommen! Wir haben heute frei und keine Busse dürfen mehr wegen des Wetters fahren. Und gehen kann man auch nicht. Andauernd rutschen wir aus. Wann kommst du? Wir warten an...“ Weiter kam sie nicht, denn Lore fiel ihrer Tochter ins Wort.
„Schatz, ich kann nicht fahren! Tut mir leid, aber es geht wirklich nicht!“
„Wie? Das geht nicht! Wir sitzen auf der Straße, im wahrsten Sinne des Wortes, weil wir immerzu hinfallen. Bitte hole uns! Lea ist auch bei mir, und alle anderen waren entweder erst gar nicht zur Schule gekommen oder sind gleich wieder zu Fuß nach Hause gegangen. Nur wir von den Dörfern hängen nun hier so blöde fest.“
„Ich verstehe dich, mein Schatz! Ich versichere dir: Es ist völlig unmöglich! Jetzt loszufahren wäre absolut verantwortungslos. Ich würde mit Sicherheit im Straßengraben landen, glaub es mir. Im Radio haben sie gesagt, dass selbst die Räumfahrzeuge nicht fahren können. Eine Besserung der Situation sei noch lange nicht in Sicht. Es tut mir wirklich sehr leid!“
Mit weit aufgerissenen Augen hatte Lisa ihrer Mutter zugehört. Sie musste schlucken. „Mama“, Lisa schniefte in ihr Taschentuch, „du lässt uns hier einfach hängen?!“
Der Nieselregen besprühte die Mädchen noch stärker als zuvor. Auf dem festgefrorenen Boden wuchs die Eisschicht stetig an. Auch die Eiszapfen am Gartenzaun entwickelten sich prima.
„Sei vernünftig, mein Schatz, du weißt ganz genau, dass ich dich niemals im Stich lassen werde! Sicher könnt ihr zu jemandem aus eurer Klasse nach Hause gehen. Was meinst du?“
„Boah, Mama, sooo doll sind wir mit denen auch wieder nicht befreundet!“
„Aber heute ist doch ein besonderer Notfall! Soll ich mit Mias Mutter sprechen?“
„Echt, das ist peinlich, das macht man nicht! Nein, das will ich bestimmt nicht!“
Lore seufzte. „Ach was, das ist nicht peinlich. Aber warte mal – in der Lindenallee wohnt doch Tante Edeltraud. Die kennt ihr doch. Ich rufe sie sofort an und frage, ob ich euch zu ihr schicken darf. Ja?" ...
DER PFEFFERKUCHENBALL
Lea schmetterte einen Schneeball nach dem anderen an die Gartenmauer. Wie konnte Oma Anna das bloß tun? Es war einfach unglaublich! Und Oma freute sich auch noch ganz ungemein‼ Nein, das hätte Lea nie und nimmer von ihr gedacht!
Das Mädchen lief in den Holzschuppen und kletterte rasch ganz nach oben auf den Zwischenboden. Dort setzte sie sich auf einen Stapel gefalteter Säcke, stützte ihr Gesicht in beide Hände und starrte auf den Boden. Ob sie Oma noch umstimmen konnte?
Soeben hatte Lea mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Großmutter diesen Brief geöffnet hatte.
Während Omas Augen über die Zeilen glitten, waren sie immer größer geworden. „Meine Güte! Ich kann es kaum fassen! Ich habe gewonnen! Ich habe allen Ernstes gewonnen!“, rief die Rentnerin schließlich. „Lea, ich bekomme wahrhaftig eine Reise geschenkt. Eine Kreuzfahrt in die Karibik! Da wollte ich schon immer hin, schon immer! Nur kam mir das stets wie ein unerreichbarer Traum vor. Und nun bekomme ich ihn einfach geschenkt! Welch ein Glück! Ich muss sofort Edeltraud anrufen.“
„Das ist ja ganz toll! Und wann ist das?“
„Na, in zwei Wochen. Sozusagen beinahe sofort. Ich kann es immer noch nicht fassen! Und ich darf noch jemanden mitnehmen. Ob Edeltraud wohl Lust hat, mich zu begleiten?“ Oma Anna suchte nach dem Telefonhörer, konnte ihn vor lauter Aufregung aber beim besten Willen nicht finden.
„Wann? In zwei Wochen? Aber Oma − das geht doch gar nicht! Dann darfst du nicht verreisen!“ Lea war abrupt vom Stuhl aufgesprungen und hatte sich dicht vor ihre Oma hingestellt.
Doch die schob ihre Enkelin einfach lachend beiseite. „Und ob ich das kann! Glaube mir, diese Gelegenheit werde ich mir ganz bestimmt nicht entgehen lassen!“
„Und wie lange bist du dann weg?“
„Ein paar Wochen. Gleich werde ich mir das alles nochmals in Ruhe durchlesen. Jedenfalls dauert die Kreuzfahrt länger. Gott, ist das schön! Richtig, richtig himmlisch!“
„Das ist überhaupt nicht schön, das ist voll doof, eine richtige Katastrophe ist das! Am Ende bist du sogar an Weihnachten nicht da! Und was soll aus uns werden? Aus unserem Adventstreffen?“ Lea hielt ihre Großmutter an beiden Unterarmen fest.
Anna wollte ihre Enkelin lachend in die Arme nehmen, doch das Kind sträubte sich. „Ach, Schatz, du wirst sehen, auch
das ist möglich! Es hängt doch nicht immer alles allein von mir ab!“
„Doch, tut es wohl! Ohne dich geht das nicht. Niemand kann den Advent so schön machen wie du! Es ist voll egoistisch von dir, wenn du uns einfach im Stich lässt. Hast du denn gar kein Gewissen?“ Lea hatte beide Hände in ihre Hüften gestemmt und sah ihre Großmutter wütend an.
„Liebes, nein, da habe ich ganz und gar keine Gewissensbisse euch gegenüber. All die Jahre habe ich immer für alles gesorgt – gerne habe ich das gemacht, richtig gerne!
Aber nun wird es eben einmal anders sein. Manchmal darf man sich auch selbst ein wenig liebhaben, weißt du? Niemals würde ich es mir verzeihen, wenn ich dieses Angebot ablehnen würde. Und deshalb werde ich diese Reise antreten, ob es dir nun gefällt oder nicht!
Weißt du was? Möglicherweise ist das sogar eine große Chance für euch, könnte ich mir denken! So, und nun werde ich mit meiner Freundin telefonieren.“
„Was soll das denn für eine Chance sein? ...
DIE SCHAUKELPFERDPARADE
Lea traute ihren Augen kaum. Weshalb war sie noch nie auf diesem Speicher gewesen? Welche Geschichten mochten hinter all den unzählbaren Schachteln, Körben und abgestellten Möbeln stecken? Oder gab es hier möglicherweise sogar das ein oder andere Geheimnis zu entdecken? Das Mädchen stand staunend unmittelbar neben der ausziehbaren Speichertreppe in Omas Haus und sah sich um. Währenddessen bildete ihr Atem kleine, nebelhafte Wölkchen vor ihrem Gesicht, aber das bemerkte sie kaum.
Oma Anna nahm vorsichtig vergilbte Kartons nacheinander in die Hand und inspizierte sorgfältig deren Inhalte. Irgendwo mussten die alten Kugeln doch stecken, die, die sie sich als allererste geleistet hatte. Damals, als ihr Ältester gerade auf die Welt gekommen war, ihr Peter. Eigentlich waren sie viel zu teuer gewesen, diese Kugeln. Aber ihr Tannenbaum sollte unbedingt traumhaft schön sein. Dessen war sie sich wider alle Vernunft ganz sicher gewesen, und so hatte sie diese Prachtstücke kurzerhand erstanden. Und nun stand sie heute mit Peters Ältester auf dem alten Dachboden. Wie rasch doch die Zeit verging!
Luise schaute aus dem Fenster. Ein grauer Schleier lag über der riesigen Stadt. Die Regentropfen, die an ihre Scheiben klatschten, rannen an dem Glas herunter und spülten den Staub von New York mit sich fort. Luise wickelte ihre Wollstrickjacke fester um ihren hageren Körper. Nein, sie konnte sich noch immer nicht an diesen Ort gewöhnen, obwohl sie bereits geraume Zeit hier lebte. Seit ihr Mann vor fünf Jahren verstorben war, sah sie die Häuserschluchten mit ihrem schier niemals enden wollenden Lindwurm aus lärmenden und stinkenden Autos mit anderen Augen an; so, als würde sie die gesamte Szenerie von außen her betrachten. In diesen Momenten fühlte sie sich nur noch fremd – gehörte sie überhaupt an diesen Ort?
Üppige Weihnachtsdekorationen flimmerten hier und dort in den Schaufenstern.
Ein kalter Schauer lief Luise über den Rücken. Schon wieder würde sie das Fest allein in diesem engen Apartment verbringen müssen, grauenvoll!
Ihr John war regelmäßig von der Armee bereits nach kurzer Zeit von einem Stützpunkt zum anderen versetzt worden. Tiefer gehende Freundschaften hatte sie deshalb nie recht schließen können. Die Menschen waren zwar meist nett zu ihr gewesen, das schon, aber eine echte Freundin hatte sie in all den Jahren nicht gefunden. Kurz dachte sie an ihre einstige Jugendfreundin zurück. Das war etwas ganz anderes gewesen! Ob sie wohl noch lebte? Schade, sie hatte keine Ahnung, wohin das Leben sie verschlagen hatte.
„Ah, da sind sie ja“, strahlte Anna. „Das kommt davon, wenn man solche Schätze zu sorgfältig wegräumt!“ Zufrieden hielt sie die eine oder andere Kugel hoch, betrachtete sie von allen Seiten und bettete ihren zerbrechlichen Fund andächtig zurück ins hauchdünne Seidenpapier.
Lea steckte ihr Näschen ebenfalls neugierig in den Karton. „Wow, sind die schön! Die sind ja alle total verschieden! Und so bunt! Überhaupt hast du hier oben echt coole Sachen! Oma, ich will noch hierbleiben! Bitte!“
„Da staunst du, nicht wahr? Was sich im Laufe der Jahre alles so ansammelt! Ja, gut, wenn du willst, bleiben wir noch einen Moment ...
VIVA WEIHNACHTEN
Lea wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte! Seit Jahren wünschte sie sich, endlich Skifahren zu lernen – und nun fiel ihren Eltern nichts Besseres ein, als den ersten Skiurlaub ausgerechnet über Weihnachten zu buchen! „Mit der ganzen Familie zusammen in einer Hütte! Ist das nicht wunderbar?“, hatte ihr Frauke, ihre Mutter, soeben freudestrahlend verkündet. „Wir alle miteinander: also Tante Lore mit ihrer Bande, Onkel Markus mit seiner ganzen Mannschaft, Tante Tina mit ihrem Sprössling und wir natürlich“, hatte ihre Mutter gejubelt, während sie Mia, ihre Jüngste, durch die Luft wirbelte.
„Und Oma Anna? Und Onkel Hermann? Was ist mit denen?“, hatte Lea ihre Mutter angeschnaubt.
Doch die hatte seelenruhig Mia auf der Eckbank abgesetzt, sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen und mit einer lässigen Handbewegung gemeint: „Was soll mit ihnen schon sein? Die lange Fahrt und all der Trubel in der Hütte … Das ist doch nichts mehr für sie! Und überhaupt: Zum Schluss rutscht noch einer der alten Herrschaften im Schnee aus, bricht sich die Knochen und wir haben den Salat! Nein, nein, nein! Die sollen hübsch in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Das ist besser so, glaube mir! Ich dachte, du freust dich! Du willst doch endlich Skifahren lernen!“
„Ja! Aber wir können Oma und Onkel Hermann doch nicht einfach im Stich lassen‼“
„Lea, du übertreibst, wie immer! Davon ist nun wirklich keine Rede! So, ich muss nun los. Tschüss, mein Schatz!“ Und weg war sie.
Lea war fassungslos mitten in der Küche stehen geblieben und hatte ihrer Mutter hinterhergestarrt. Ob Oma Anna und Onkel Hermann das schon wussten? Lea kaute zunächst auf ihrer Unterlippe herum, dann erwischte sie ihren Anorak. „Mia, wir gehen zu Oma! Zieh dich an!“
Nun stapften die beiden Mädchen durchs Dorf. In der vergangenen Nacht war der erste Schnee auf den steinhart gefrorenen Boden gefallen. Wie hauchzartes Pulver stob er unter ihren Füßen auseinander.
Normalerweise wäre Lea kreuz und quer gelaufen, um die weiße Pracht ausgiebig zu genießen. Doch heute war ihr ganz und gar nicht danach. Mit raschen Schritten ging Lea auf Omas Haus zu und zog dabei gnadenlos ihre maulende Schwester hinter sich her.
Unmittelbar vor Omas Haustür stand Onkel Hermanns Geländewagen. Achtlos schüttelte Lea ihre Stiefel von den Füßen und riss die Haustüre auf.
„Oma, weißt du schon, dass wir an Weihnachten Ski fahren werden?“ Das Mädchen stand mitten in der sperrangelweit geöffneten Türe.
Oma Anna und Hermann saßen am Küchentisch und rührten in ihren Kaffeetassen. Rasch wechselten sie einen Blick. „Sicher, mein Schatz“, lächelte Anna ein wenig müde.
„Ohne euch‼“ Irritiert schaute Lea von einem zum andern.
„Ja, ja“, meinte ihre Großmutter, während Hermann unaufhörlich mit seiner Tasse herumklapperte.
„Und das ist dir egal?“ Nicht einen Moment ließ Lea ihre Großmutter aus den Augen.
„Jetzt mach bitte endlich die Türe zu. Es wird ja eiskalt in der Stube! Möchtet ihr einen Kakao?“ Mia saß bereits am Tisch und nickte begeistert.
„Die wollen euch Weihnachten einfach alleine lassen!“ Lea stand immer noch wie angewurzelt mitten im Raum.
Anna warf Hermann nochmals einen warnenden Blick zu, dann erhob sie sich langsam. „Ach Schatz, so solltest du das nicht sehen! Weißt du, es wird Zeit, dass ihr Kinder endlich Skifahren lernt! Mache dir um uns bitte keine Sorgen! Ich freue mich für euch!“ Doch Anna tauchte ihr Gesicht rasch tief in den Geschirrschrank hinein und angelte nach dem Milchtopf ...
OPERATION STERNSCHNUPPE
Lea stand wie angewurzelt da und bekam ihren Mund einfach nicht mehr zu. Wie gut, dass sie auf Socken die Treppe heruntergekommen war! Frauke, ihre Mutter, hatte sie offenbar nicht kommen hören. Sie faltete einen riesigen Berg Wäsche und telefonierte gleichzeitig mit ihrer Schwägerin. „Lore, ich bin ja heilfroh, dass du das genauso siehst wie ich. Mir wächst einfach alles über den Kopf! Es ist zwar richtig super, dass ich meine alte Stelle nach der Elternzeit wiederbekommen konnte, aber der Haushalt tut sich schließlich nicht von allein! Peter hilft mir, wo er nur kann, da kann ich mich beim besten Willen nicht beschweren, aber viel Freiraum bleibt nun mal nicht übrig. Echt, ich wünsche mir wenigstens an den Wochenenden ein klein wenig Ruhe! Die Adventstreffen bei Anna sind ja gut und schön – aber was zu viel ist, ist zu viel!“
Lea kaute an ihrer Unterlippe herum. Sollte das etwa bedeuten, dass es in diesem Jahr kein Adventstreffen bei Oma Anna geben würde? Kein Großfamilientreffen, bei dem sie alle lustig durcheinander wuselten, lauter leckere Naschereien verputzten, das Miteinander, den Winter, den Schnee – und, ach, einfach alles genießen konnten? Kein fühlbares ‚Alles ist gut!‘? Genau so hörte sich das an! Schon holte sie tief Luft und wollte ihren Protest lauthals herausbrüllen. Doch dann hielt sie sich im letzten Moment zurück und setzte sich stattdessen leise auf eine der Treppenstufen. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr. Möglicherweise hatte sie etwas völlig missverstanden. Denn was Tante Lore sagte, konnte sie leider nicht hören.
Ihre Mutter nickte eifrig zustimmend, während sie eilig weiter Handtücher faltete. „Genau, Lore. Es bleibt dabei! Du redest mit deiner Mutter und machst ihr klar, dass das alles sowieso langsam zu viel für sie ist, und ich spreche mit dem Rest eurer Geschwister, also mit Markus und Tina. Den beiden wird es auch nicht anders als uns ergehen, würde ich meinen. Wie bringen wir das nur Onkel Hermann bei? Was denkst du? Ich glaube, das sollte mein Mann am besten machen. Schließlich ist Peter Hermanns Neffe. Wie ich meinen Schatz kenne, wird er genau den richtigen Ton treffen.
Lassen wir stattdessen wenigstens mal an einem Wochenende unsere Seelen baumeln. Das wird uns allen sicherlich richtig guttun, du wirst sehen!“
Lea kämpfte mit den Tränen. Es war also wahr! Sie hatte sich anfänglich ganz und gar nicht verhört! Die Erwachsenen würden tatsächlich dafür sorgen, dass es diesen wunderbaren Nachmittag einfach nicht mehr geben wird! Leas Mund wurde ganz trocken und ihre Augen begannen zu brennen. Schlagartig sprang sie auf, stampfte so schnell sie konnte die Treppe hinauf, lief quer durch den Flur und knallte ihre Zimmertür laut zu. Mit einem Satz lag sie auf ihrem Bett und vergrub ihr Gesicht in den Kissen ...
MISTELZWEIGGEFLÜSTER
Lea lehnte sich weit über das Lenkrad hinaus und trat kräftiger in die Pedalen. Es waren nur noch wenige Tage bis zum 1. Advent. Doch niemand außer ihr machte sich in diesem Jahr anscheinend Gedanken über die Adventsvorbereitungen. Unglaublich! Blitzschnell riskierte sie einen kurzen Seitenblick. Nadja, ihre beinahe zwei Jahre ältere Cousine, blieb ihr nach wie vor dicht auf den Fersen, dicht gefolgt von Lena, die erst währen der letzten Herbstferien in Leas Nachbarschaft gezogen war. Aufgrund der Erfahrungen des vergangenen Jahres wollte Lenas Familie nun lieber in einem eigenen Haus auf dem Lande leben und einen Garten zum Herumtollen nutzen können. Von Anfang an waren sich die Mädchen sympathisch gewesen.
Lea heftete erneut ihren Blick auf den hart gefrorenen Waldweg und begann im Stehen so schnell zu strampeln, dass die Tannen am Wegesrand noch rascher an ihr vorbeihuschten. Hübsch weiß waren sie leider noch nicht.
Dobby galoppierte mit fliegenden Ohren und flatternder Seidenrute ein gutes Stück vor ihr her. Ihm konnte es gar nicht schnell genug gehen, wusste das Mädchen. Während Cookie, Nadjas fuchsrote Promenadenmischung, ihnen kaum mehr folgen konnte. Kein Wunder, denn der war bereits zwölf Jahre alt, wollte aber dennoch die Mädchen bei ihren Ausflügen unbedingt begleiten. Spätestens bei der nächsten Rast würde er sie wieder einholen, das war sicher. Da er sich weder für Rehe, noch für irgendwelche Häschen interessierte, war es auch weiter kein Problem, ihn alleine nachkommen zu lassen.
Lea wollte unbedingt vor Nadja und Lena Oma Annas Streuobstwiese erreichen. Es war bereits Mitte November und somit allerhöchste Zeit, dort nach beeindruckend großen Mistelzweigen Ausschau zu halten.
Davon brauchten sie gleich mehrere: ein Prachtexemplar für Oma Anna, dann jeweils einen für die vier Familien von Annas erwachsenen Kindern sowie einen für Omas Bruder Hermann. Natürlich bekamen Omas Freundinnen auch ein paar schöne Zweige. Selbstverständlich sollte auch Lena einen besonders imposanten für ihr Daheim mitnehmen.
„Dobby, straight!“, befahl Lea ihrem Hund an der nächsten Kreuzung. Es war so praktisch, dass sie ihn mit Zurufen vom Rad aus dirigieren konnte. Noch eine kleine Steigung, dann befanden sie sich bereits in Sichtweite der besagten Wiese. Lea riskierte nochmals einen Seitenblick. Sie hatte einen beachtlichen Vorsprung vor den anderen.
Bedächtig kam ein Fahrzeug auf sie zu. Das Motorengeräusch war Lea nur allzu vertraut. Flink fuhr sie zur Seite, rief ihren Hund zurück und stieg vom Rad. Dobby schaute sich kurz nach ihr um und war augenblicklich neben ihr. Und das aus gutem Grund. Denn wenige Augenblicke später hielt Onkel Hermann seinen Geländewagen an. Hermann hatte immer die allerunwiderstehlichsten Leckereien, wusste Dobby. Erwartungsfroh schaute der Hund in Richtung der Fahrertür. Und richtig. Wie von Geisterhand fuhr bereits das Fenster herunter.
Lea sah es gleich. Heute ging es Hermann ganz und gar nicht gut. Normalerweise war er grundsätzlich die Ruhe selbst und bedachte alles und jeden mit verschmitzten oder foppenden Kommentaren. Jetzt hingegen waren seine Augen untypisch traurig, daran gab es überhaupt keinen Zweifel ...
Bedächtig umrundete er sein Gefährt, zog prüfend mal an diesem, mal an jenem Gurt, blickte nochmals ausgiebig auf die Bremsscheiben, nickte zufrieden und tätschelte schließlich seinen Rentieren nacheinander die Flanken. Die Tiere ließen dieses Ritual geduldig über sich ergehen. Genau so und nicht anders waren sie es schließlich seit unendlich vielen Jahrhunderten gewohnt.
„Na, mein Alter, alles klar?“ Der Weihnachtsmann war bei Rudolf stehen geblieben.
Rudolf ergriff die günstige Gelegenheit und schubberte seinen Kopf ausgiebig am dicken Mantel von Santa Claus.
Ach ja, da der Weihnachtsmann eine so wichtige Person war, hatte er gleich mehrere Namen. In Amerika wurde er, wie bereits erwähnt, Santa Claus genannt, in Europa bezeichnete man ihn oftmals als den Weihnachtsmann, obwohl manche Menschen auch noch genau wussten, dass er einst in Myra als Bischof Nikolaus vor langer, langer Zeit gelebt hatte. Und weil er ein sehr guter Mensch gewesen war, der sich für andere einsetzte, war er in den Himmel gekommen. Nun durfte er von dort aus Jahr für Jahr weiterhin Menschen reich beschenken.
Der Weihnachtsmann ließ Rudolf gewähren und kraulte ihn zusätzlich zwischen den Ohren. „Ja, mach nur, mein Guter. Gleich geht’s los! Freust du dich schon?“
„Und wie! Das sind schließlich die allerschönsten und aufregendsten Wochen im ganzen Jahr!“, strahlte Rudolf.
Der Weihnachtsmann wunderte sich bereits seit Langem nicht mehr darüber, dass Rudolf mit ihm sprechen konnte. Schließlich war Rudolf nicht irgendwer! Er war sein treuester Gefährte seit Menschengedenken, leistete Santa während seiner abenteuerlichen Reisen durch Eis und Schnee unschätzbare Dienste, und vor allem war Rudolf absolut zuverlässig. Falls Santa mal ein Nickerchen machen wollte, während sie zum nächsten Ort durch die Wolken glitten, übernahm Rudolf wie selbstverständlich die Navigation. Niemals war es vorgekommen, dass sie währenddessen ihre Route verfehlt hatten. Auf Rudolf war Verlass!
Der Weihnachtsmann streckte seinen Rücken durch, schloss seine obersten Mantelknöpfe und wickelte sich einen dicken Schal um seinen Hals. Mit beschwingten Schritten begab er sich zum Schlitten und stieg behände auf. Sorgfältig hüllte er sich in seine kuschelige Decke ein und nahm die Zügel auf.
Rudolf wandte seinen Kopf um. Man hätte meinen können, dass er gezwinkert hatte. „Dieselbe Strecke wie letztes Jahr?“
„Dieselbe Strecke wie jedes Jahr, Rudolf!“, rief der Weihnachtsmann und schnalzte laut mit der Zunge. Und schon glitten sie durch die Nacht. ...
Luna fror fürchterlich. Sie zerrte an dem zartrosa Wollfilz und kuschelte sich, so gut es ging, dort hinein. Natürlich bibberte sie erbärmlich! Eigentlich hatte sie hier in der glitzernden Schneelandschaft rein gar nichts zu suchen. Der Sommer war ihre Zeit, doch jetzt herrschte eiskalter Winter. Normalerweise wohnte sie während dieser Monate tief unten in der Erde, dort, wo es immer kuschelig warm war. Eine merkwürdige Unruhe hatte sie jedoch ergriffen, und so war sie an die Oberfläche geklettert. Heimlich, versteht sich, denn ihre Freunde hätten sie auf jeden Fall davon abgehalten, sobald sie ihr Vorhaben bemerkt hätten. Denn Eis und Schnee können Feen das Leben kosten, das wusste auch Luna. Sie hatte es dennoch gewagt. Etwas tief in ihrem Inneren hatte sie trotz dieser Gefahr unaufhaltsam dazu angetrieben.
Vorsichtig lugte sie unter dem Rand ihres blütenblattähnlichen Umhangs hervor. Es herrschte tiefe Nacht. Das gleißende Mondlicht hüllte die hügelige Landschaft in sein mattes Licht und verlieh den Bäumen, Sträuchern und Grasbüschen einem ganz zauberhaften Glanz. Sowie der Wind über die Anhöhe fuhr, auf der sich Luna hinter einen Basaltstein zusammengekauert hatte, setzten sich die mit watteweichem Schnee bedeckten Äste in Bewegung und wiegten sich sachte im Wind.
Ein wunderschöner Anblick, stellte sie verwundert fest. Nahezu zauberhaft, aber leider eiskalt. Luna schmiegte sich tiefer in den Wollfilzumhang und hielt ihn unter dem Kinn fest zusammen.
Vergangenen Sommer hatte sie ihn gefunden. Zwei Mädchen, die oft in der Nähe ihres Feenschlosses durch den Wald streiften, hatten mehrere Blütenblätter und Kelchblumen aus pastellfarbenem Filz auf einem bemoosten Stein abgelegt, waren um den Stein herumgetanzt und hatten verkündet: „Hallo, ihr lieben Feen, das ist für euch! Wir haben die Blüten selbst angefertigt und möchten sie euch gerne schenken!“
Wie gut, dass die Mädchen das dazu gesagt hatten! So konnten die Feen dieses Geschenk mit Freude annehmen. Es kam nämlich nicht mehr sehr oft vor, dass ihrem Volk etwas geschenkt wurde. In früheren Zeiten hatten die Menschen das öfters getan.
Luna und ihre Freunde freuten sich sehr über diese Gewänder. So etwas konnte man schließlich immer gebrauchen. Selbst Sommernächte konnten manchmal empfindlich kühl werden, das wussten sie.
Luna entdeckte neben dem Stein, der ihr Schutz vor den eisigen Windböen bot, einen kleinen Holzsplitter. Er war so dünn wie eine Nadel. Der kam ihr gerade recht. Flink griff sie danach, stülpte ihr Kleidungsstück über ihr Köpfchen und verschloss ihr Mäntelchen mit dem Hölzchen unterm Kinn. So war es schon viel besser.
Luna sah sich vorsichtig um. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich orientieren konnte. Alles sah so anders aus als im Sommer. Doch nach und nach erkannte sie die verschiedenen Silhouetten der Buchen wieder. Einige der jüngeren Bäume lagen kreuz und quer über den Waldboden verstreut. Obwohl ihre Stämme mit funkelndem Schnee bedeckt waren, stimmte dieser Anblick Luna sehr traurig. Schließlich waren sie die zukünftigen Bäume gewesen, die wachsen sollten – stattdessen würden sie nun vermodern.
Genau DAS raubte Luna die Ruhe. Deshalb hatte sie ihr Winterquartier trotz aller Gefahren verlassen. Eines stand fest: So durfte es nicht weitergehen …
Antonia gab Max die Zügel. Seine Hufe wirbelten den pulverigen Schnee hinter ihnen hoch in die Lüfte. Augenblicke später schwebte er wie glitzernder Feenstaub der allgegenwärtigen weißen Pracht entgegen. Der Feldweg, den das Mädchen nutzte, schmiegte sich entlang der Hänge eines sanften Hügels. Verschiedenste Büsche und Sträucher säumten den Wegesrand, allesamt tief gebeugt unter dicken, weißen Polstern.
Hastig wischte sich Antonia zum wiederholten Mal mit dem Handrücken über die Augen, um besser sehen zu können. Doch das half nur für wenige Augenblicke. Sie hatte keine Ahnung, wohin dieser Weg führte, auch nicht, wie lange sie bereits unterwegs war, denn diese Gegend war ihr absolut fremd. Allein ihr Max war ihr vertraut, ihr tapferer kleiner Max. Der fiel nun zurück in den Schritt, schnaubte und sah sie an. Er war irritiert, keine Frage. Denn normalerweise hielt seine Reiterin die Zügel fest in der Hand und duldete nicht auch nur die geringste Eigenmächtigkeit ihres Ponys. Doch heute, heute war das völlig anders.
Antonia kam es so vor, als wenn das Leben sie einfach irgendwo hin verweht hatte. Eine Wahl hatte sie nicht gehabt. Und nun, nun ließ sie sich von ihrem Pony durch die Fremde tragen, planlos wie ein Blatt im Wind.
Diese Hügel waren nicht ihre Berge mit den majestätischen und imposanten Gipfeln. Dies hier waren etwas höhere Erhebungen, mehr auch nicht, fand sie. Erneut wischte sie sich mit der Hand über die Augen, um etwas sehen zu können, denn sie nahm ihr Umfeld lediglich schemenhaft wahr.
Plötzlich zuckte der kurze, kräftige Körper von Max heftig und sank augenblicklich um beinahe einen Meter ein. Das Pferdchen wieherte schrill und versuchte mit ruckartigen Bewegungen, sich aus der misslichen Lage zu befreien, in die es geraten war. Antonia balancierte reflexartig die Manöver ihres kleinen Freundes aus, und begriff endlich, was geschehen war.
Da Max sich in dieser Gegend genauso wenig auskannte wie sie selbst und Antonia ihn nicht lenkte, war der arme Kerl tief in eine Schneewehe hineingeraten und steckte darin regelrecht fest. Seine Hufe schienen keinerlei Bodenkontakt zu haben und sein rundes Bäuchlein war vom Schnee regelrecht festgesetzt. Das Kerlchen konnte so viel rudern, wie es wollte, es hatte keine Chance, sich selbst aus dieser aussichtslosen Lage befreien zu können.
Ratlos glitt Antonia aus dem Sattel und steckte im nächsten Moment selbst bis unter beide Arme in der weißen Pracht fest. So etwas war ihr niemals zuvor passiert. Erst jetzt erkannte sie, dass der Weg auf diesem Stück mehr oder weniger völlig zugeweht war. Anscheinend hatte noch niemand vor ihnen den Versuch unternommen, diese Strecke zu passieren. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, ihre Beine zu bewegen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Max mühte sich aufs heftigste, doch leider ebenso ohne Erfolg. Dabei wieherte er zum Gotterbarmen.
Antonia erwachte schlagartig aus ihrem Selbstmitleid und erkannte, dass sie, das Mädchen aus den Alpen, nun samt Pony irgendwo in der Eifel in einer Schneewehe regelrecht feststeckt. Ein Blick gegen den Himmel verriet ihr, dass es zudem in nicht allzu langer Zeit dunkel werden würde.
Armer Max! In welche Lage hatte sie ihren Liebling nur gebracht?
Hermann griff in die Innentasche seiner dick wattierten Winterjacke und zog vorsichtig sein silbernes Zigarrenetui heraus. Normalerweise tat er das nicht, wenn er auf der Pirsch war. Obwohl er selten rauchte, wollte er sich jetzt dennoch eine gönnen. Denn er musste in Ruhe über etwas nachdenken, das ihn seit einiger Zeit sehr beschäftigte.
Genüsslich blies er den aromatischen Rauch seiner kubanischen Zigarre aus und ließ seinen Blick über das sich ihm bietende Panorama schweifen. Unmittelbar vor der Kanzel, auf der er gerade saß, lag eine Wildwiese. Die längeren Halme der wuscheligen Grasbüschel trugen silberne Bärte, die im aufsteigenden Vollmond unaufhörlich flimmerten. Sowie eine leichte Windböe sie erfasste, konnte man meinen, sie flüsterten kaum vernehmlich miteinander. Weißdornhecken und Haselnusssträucher umrahmten die freie Grasfläche. Dahinter schloss sich ein stattlicher Buchenwald an, der in einem dunklen Tal verschwand. Wie an einer Perlenkette schmiegten sich die sanften Erhebungen mehrerer Berge am Horizont aneinander. Auch heute wirkte der Anblick der lieblichen Eifellandschaft ungemein friedlich auf ihn.
Die rauchblauen und zartrosa Schattierungen des Abendhimmels waren längst dem samtigen Dunkelblau des nächtlichen Firmamentes gewichen. Da der allgegenwärtige Raureif das Licht des Vollmondes verschwenderisch reflektierte, war die ärgste Finsternis gebannt. Über dem Bergkegel, der imposant mitten aus dem tief in die Landschaft eingegrabenen Tal herausragte, schwebte ein prächtig beleuchteter Weihnachtsbaum wie eine Verheißung. Er war oben auf dem mächtigen Turm aus längst vergangenen Tagen aufgestellt worden und strahlte weit ins Brohltal hinein seine Botschaft vom Weihnachtsfrieden. Hermann empfand ihn als Hoffnungszeichen für all das, was gut und richtig im Leben der Menschen sein könnte.
Weihnachten! Ja, das hatten er und seine Schwester Anna zusammen mit mehreren Freunden vor nur wenigen Tagen gefeiert. Natürlich in Annas Haus, weil ihr Wohnzimmer für sie alle zusammen genügend Raum bot.
Seit Annas längst erwachsene Kinder den vierundzwanzigsten Dezember verständlicherweise zusammen mit ihrer jeweils eigenen Familie verbrachten, hatten die Senioren irgendwann damit begonnen, gemeinsam ihre eigene Feier zu genießen. Ein paar Mal hatten sie sich dazu mitten im Wald in Hannos Jagdhütte getroffen. Wirklich praktisch war dies trotz aller wunderbaren Romantik jedoch nicht. Denn alles und jedes musste recht mühselig dorthin gebracht werden, was schon einen gewissen Aufwand bedeutete. Deshalb waren sie in diesem Jahr in Annas Haus zusammengekommen: Er selbst, seine Schwester; ihre Freundin Luise, die erst vor wenigen Jahren aus New York in die alte Heimat zurückgekehrt war; Hildegard, die ihr Leben in diesem Dorf als Hebamme verbracht hatte und seit einer gesundheitlichen Krise in einer Seniorenresidenz in der nahe gelegenen Kreisstadt wohnte; Edeltraud, eine ehemalige Schneiderin und Annas langjährige Freundin; Herr Wichert, der in dem gleichen urigen Haus lebte wie Edeltraud und seit einer legendären Krippenausstellung zu ihnen dazugehörte. Sie alle harmonierten erstaunlich gut miteinander, respektierten einander so, wie sie waren, und niemand versuchte, dem anderen etwas aufzuzwingen. Wenn jemand mal eigene Pläne schmiedete oder schlichtweg keine Lust auf ein Treffen hatte, so wurde das allgemein fraglos akzeptiert.
Hermann war sehr bewusst, wie selten solch ein rücksichtsvoller Umgang aller Parteien miteinander vorkam. Gerade das machte diese Freundschaften so besonders, bereichernd, angenehm und, ja, kostbar!
Und Irmgard gehörte mittlerweile seit geraumer Zeit natürlich auch dazu! Sowie er an sie dachte, wurde es ihm sogleich richtig warm ums Herz. Denn seit sie einander im Remagener Tierheim zufällig begegnet waren, waren sie ein Paar. Nicht, dass sie etwa an Heirat oder eine gemeinsame Wohnung dachten, das stand bislang nicht zur Debatte. Ein jeder von ihnen hatte seine eigenen liebgewonnenen alltäglichen Abläufe. Dennoch war es ein immenses Geschenk, Dinge gemeinsam unternehmen zu können und grundsätzlich füreinander da zu sein.
Hermann bemerkte, dass er auch jetzt, da er nur an Irmgard dachte, glücklich vor sich hinlächelte. „Möge es noch lange so sein können!“, wünschte er sich inbrünstig, während er erneut den Rauch dem Vollmond entgegenblies.
Doch für gewöhnlich blieben lieb gewordene Dinge niemals auf ewig so, wie sie gerade waren. Leider konnte man der voranschreitenden Zeit kein Schnippchen schlagen, jedenfalls nicht auf ewig!
Bei diesem Gedanken rutschte er etwas unbehaglich auf seinem Sitz hin und her.
Denn es war ihm an Heiligabend keineswegs entgangen, dass die Feier Anna so einiges abverlangte. Sie erledigte das Kochen bei weitem nicht mehr mit der lockeren Geschmeidigkeit wie noch vor einigen Jahren. Ja, sie hatte alles mit Bravour gemeistert, wie immer. Dennoch kannte er seine Schwester gut genug, um zu erkennen, dass all das längst weit über ihre Kräfte hinaus ging.
Sie alle wollten schöne Zeiten miteinander verbringen, das Leben genießen und es dabei geruhsam angehen lassen. Wunderbare Gedanken! Doch durfte dies zu Lasten von jemanden gehen? Sicherlich nicht!